Pilze - Netzwerker mit Weltrettungspotenzial - Wiener Zeitung Online

2022-07-08 18:26:19 By : Admin

Der Fliegenpilz geht besonders gern eine Symbiose mit Birken ein.

Es gibt Tiere, es gibt Pflanzen – und es gibt Pilze. Sie sind weder das eine noch das andere, sondern Fungi bilden das dritte Reich der eukaryotischen Lebewesen, also jener Organismen, deren Zellen einen Kern und viele verschiedenartige Zellräume haben.

Wegen ihrer sesshaften Lebensweise wurden Pilze bis ins 20. Jahrhundert zu den Pflanzen gerechnet, sie können allerdings keine Photosynthese betreiben, sondern ernähren sich wie die Tiere heterotroph, das heißt sie müssen organische Substanzen aufnehmen, jedoch in gelöster Form. Dazu geben sie bestimmte Enzyme ab, die diese Substanzen aufschließen und so für den Pilz verfügbar machen.

Eine weitere Gemeinsamkeit von Pilzen und Tieren ist die Bildung des Polysaccharids Glykogen als Speichersubstanz, während Pflanzen Cellulose bilden. Außerdem findet sich in der Zellwand der meisten Pilze Chitin, das ein Hauptbestandteil des äußeren Skeletts von Gliederfüßern ist, im Pflanzenreich aber nicht vorkommt. Pilze sind also näher mit Tieren verwandt.

Es gibt unter den Pilzen allerdings nicht nur Saprophyten, also jene, die organisches Material zersetzen, sondern auch Parasiten, die sich von ihrem Wirt ernähren und ihn dabei beschädigen, und sogenannte Mykorrhiza: Diese leben in einer Symbiose mit Pflanzen, indem ihre Hyphen (die dünnen, fadenförmigen Zellen des Pilzes, die mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen sind) in deren Wurzelzellen eindringen. Pilz- und Pflanzenzelle bleiben dabei jedoch immer voneinander getrennt.

Die Gesamtheit aller Hyphen bildet das sogenannte Myzel, das unter der Erdoberfläche liegt, und das ist der eigentliche Pilz. Was wir im heimischen Sprachgebrauch gerne als "Schwammerl" bezeichnen, ist tatsächlich nur der oberirdische Fruchtkörper des (Speise-)Pilzes. Bei Baumpilzen findet sich das Myzel im Holz.

Der Dunkle Hallimasch ist zu Großem fähig.

Unter den Pilzmyzelen finden sich wahre Methusalems und Giganten: So ist der größte bekannte Pilz der Welt ein Dunkler Hallimasch, der in einem Naturschutzgebiet in Oregon gefunden wurde. Seine Ausdehnung beträgt rund neun Quadratkilometer, sein Alter wird auf 2.400 Jahre geschätzt. Allerdings gilt der Dunkle Hallimasch als Forstschädling, denn er tötet die Bäume, deren Wurzeln er befällt, ab. Von einer echten Symbiose kann also keine Rede sein.

Etwa 90 Prozent aller Landpflanzen können mit bestimmten Pilzen eine Lebensgemeinschaft bilden. Die beteiligten Pilze gehören hauptsächlich der Klasse der Arbuskulären Mykorrhizapilze an, die ihren Namen von der astförmigen Verzweigung ihrer Hyphen haben.

In Mitteleuropa gibt es aber auch Ektomykorrhiza, deren Myzel die Baumwurzeln umschlingt und nicht in die Zellen, sondern in die Rinde der Wurzeln eindringt. Von dieser Symbiose profitiert die Pflanze, indem sie über den Pilz verstärkt mit mineralischen Nährstoffen versorgt wird, da dessen Myzel den Boden besser als die Saugwurzeln der Bäume durchdringen kann. Umgekehrt wird der Pilz von der Pflanze, die Photosynthese betreibt, mit Zucker versorgt, den er als Energiequelle und für die Bildung anderer organischer Substanzen nutzt. Solange diese Versorgung funktioniert, können Hyphen unbegrenzt weiterwachsen. Das Wachstum folgt dabei aber nicht primär der organischen Nahrungsquelle, sondern das Myzel breitet sich möglichst gleichmäßig in alle Richtungen aus: So kann es im Fall eines Ausfalls eines Versorgers auf andere zurückgreifen.

Nicht immer ist der Parasit ein Pilz: Die Vogel-Nestwurz, eine Pflanzenart aus der Familie der Orchideen, führt keine Photosynthese aus und besitzt auch keine Wurzelhaare. Als sogenannter Holoparasit (Vollschmarotzer) lebt sie auf dem Pilz und wird von ihm mit Wasser und Nährstoffen versorgt. Die äußeren Schichten der Wurzelrinde der Vogel-Nestwurz enthalten in ihrem Zellinneren Pilzhyphen, in den innenliegenden Schichten werden diese verdaut. Da der Pilz über seine Hyphen gleichzeitig in Kontakt mit Baumwurzeln ist, stammen die organischen Verbindungen im Endeffekt von den Bäumen – man spricht von Epiparasitismus, der Ausbeutung eines Lebewesens durch ein anderes unter Vermittlung eines Dritten.

Eine spezielle Form der Symbiose stellen Flechten dar: In diesem Fall beherbergen Pilze einzellige Grünalgen als Symbionten, die dank ihrer Fähigkeit der Photosynthese den Pilz miternähren. So ist die Flechte nicht auf externe Nahrungsquellen angewiesen und kann extreme Lebensräume besiedeln. Der stärkere Partner ist allerdings die Grünalge, denn sie kann auch ohne Pilz überleben, während der Pilz ohne Grünalge sterben würde.

Kehren wir noch einmal zum Myzel zurück, dem unterirdischen Pilzgeflecht. Forscher haben nicht nur herausgefunden, dass dieses Netzwerk in seinem Aufbau unseren Nervenbahnen entspricht, sondern auch, dass es Elektrolyte und elektrische Impulse verwendet. Eine mathematische Analyse dieser Signale, die die Pilze untereinander "verschicken", hat Muster identifiziert, die in ihrer Struktur eine frappante Ähnlichkeit mit der menschlichen Sprache aufweisen.

Professor Andrew Adamatzky vom Computerlabor der University of the West of England in Bristol untersuchte die Muster elektrischer Spitzen, die von vier Pilzarten erzeugt werden – Enoki-, Spaltkiemen-, Geister- und Raupenpilze –, indem er Mikroelektroden in Substrate einführte, die von ihren Hyphenfäden besiedelt waren. Die Studie, die am 6. April 2022 veröffentlicht wurde (Adamatzky A. 2022: Language of fungi derived from their electrical spiking activity. R. Soc. Open Sci. 9: 211926. https://doi.org/10.1098/rsos.211926), ergab, dass sich diese Spitzen zu Ketten verdichteten, die einer Aneinanderreihung von bis zu 50 Wörtern ähnelten, und dass die Verteilung dieser "Pilzwortlängen" eng mit denen menschlicher Sprachen übereinstimmte. Spaltkiemenpilze, die auf verrottendem Holz wachsen und deren Fruchtkörper engstehenden Korallen ähneln, erzeugten die komplexesten "Sätze" von allen.

Adamatzky vermutet, dass Pilze diese elektrische "Sprache" verwenden, um Informationen über Nahrung oder Verletzungen mit weiter entfernten Teilen oder mit symbiontischen Partnern wie Bäumen auszutauschen. Doch es wurden bereits zuvor in anderen Studien Formen von pulsierenden Strömen in Pilznetzwerken festgestellt, vor allem beim Nährstofftransport, weshalb andere Wissenschafter skeptisch sind und zögern, diese Impulse mit der menschlichen Sprache zu vergleichen. Die Forschung zu diesem Thema ist jedenfalls erst am Anfang…

In anderen Bereichen ist man schon weiter: Das Myzel dient nicht nur als biomimetisches Vorbild, sondern die besonderen Eigenschaften dieses unterirdischen Geflechts werden für Produkte wie Baumaterialien, Matten, spezielle Schäume oder sogar Möbel verwendet. Die ungewöhnliche Formbarkeit lässt aus Pilzen Hüte und Taschen werden: In Rumänien bearbeitet man Zunderschwämme, um aus ihrem weichen, filzartigen Gewebe Kopfbedeckungen zu formen. In Deutschland haben sich der Schuhhersteller "Nat-2" und das Designunternehmen "Zvnder" zusammengetan, um Pilzleder herzustellen, aus dem Geldbörsen und Schuhe produziert werden. Ungewöhnliches entwickelt der Installationskünstler Philip Ross aus dem Myzel und dem Glänzenden Lackporling, nämlich Baustoffe.

Unglaubliches entdeckten Atsushi Tero von der Universität Hokkaido und seine Kollegen aus Japan und Großbritannien: Sie setzten Physarum polycephalum, einen Schleimpilz, auf eine feuchte Oberfläche, deren Umrisse der Küste Japans entsprachen. Der Schleimpilz kam ins Zentrum, also Tokio, rundherum wurden 36 Haferflocken platziert, die der Lage von 36 Städten in der Umgebung der japanischen Hauptstadt entsprachen. Die Forscher beobachteten, wie sich der Pilz ausbreitete – er suchte mit unbeirrbarer Sicherheit den effizientesten Weg zwischen zwei Punkten. Und dieser Weg imitierte erstaunlicherweise das Bahnnetz von Tokio.

In einem zweiten Experiment ließen die Forscher den Schleimpilz zunächst die gesamte Oberfläche besiedeln und setzten erst dann die Haferflocken darauf – das Ergebnis war dasselbe. Diese effektive Form der Nahrungssuche brachte Tero und seine Kollegen dazu, vorzuschlagen, derartige selbstorganisierte effiziente Netzwerke als Vorbild für ähnliche Strukturen wie mobile Telefon- oder Computernetze heranzuziehen. Dazu haben die Forscher eine mathematische Formel aufgestellt, die die Selbstorganisation des Organismus ausdrückt. Die Studie "Rules for Biologically Inspired Adaptive Network Design" wurde am 22. Jänner 2010 in "Science" veröffentlicht, nachzulesen unter https://www.science.org/doi/10.1126/science.1177894.

Speisepilze wie Steinpilze oder Eierschwammerl sind bei Genießern sehr beliebt.

Sie besiedelten die Erde lange vor den Pflanzen und sind damit die ältesten Lebewesen unseres Planeten. Außerdem sind sie die größten, widerstandsfähigsten und artenreichsten Lebewesen – sind Pilze vielleicht auch diejenigen, die die Erde retten können? Der autodidaktische amerikanische Mykologe und Autor Paul Stamets ist überzeugt davon, schließlich hätten die Pilze aus einem toten einen bewohnbaren Planeten gemacht. Und sie haben alle Artensterben überlebt, sogar den Asteroideneinschlag, der das Ende der Dinosaurier war: Pilze können also stark zerstörte Natur wiederaufbereiten und neues Leben ermöglichen.

Mittlerweile weiß man, dass Pilze tatsächlich wichtige "Recycler" sind und Giftstoffe in ungefährliche Stoffe umwandeln können: Im Atomreaktor von Tschernobyl fand man nach der Kernschmelze Pilze, die sich von atomarer Strahlung ernährten – eine Möglichkeit, um Atommüll loszuwerden? Der Austernpilz hat Geschmack an Plastik gefunden – könnte er in Zukunft die Meere von Mikroplastik säubern?

Zerstören wir Böden, zerstören wir gleichzeitig das Myzel. Dabei sind Mykorrhizapilze unverzichtbar als CO₂-Speicher. Man vermutet, dass rund 70 Prozent des Kohlendioxids in den Myzelien lagert.

Die Landwirtschaft kommt heutzutage nicht mehr ohne Phosphor aus – es ist das Düngemittel Nummer eins. Doch dieser Rohstoff wird – wie so viele andere – knapp. Und wieder können Mykorrhizapilze helfen, denn sie erleichtern den Pflanzen die Aufnahme von Phosphor und minimieren somit den Verbrauch.

Wer gerne Pilze isst, der weiß, dass sie nicht nur selbst in eher geringen Mengen satt machen, sondern dass sie auch äußerst nährstoffreich sind. Ein Kilogramm getrocknete Biochampignons hat etwa um ein Drittel mehr Eiweiß als ein Kilogramm Biorinderhüftsteak. Außerdem sind sie ertragreich und genügsam: Auf einem Hektar wachsen im Jahr 800 Tonnen Pilze. Sie gedeihen auf Substraten wie Pflanzenabfällen oder dem Mist von Nutztieren, die sie wieder zu Pflanzendünger umwandeln – ein genialer Kreislauf, der allen etwas bringt. Außerdem brauchen Pilze im Vergleich zu Pflanzen viel weniger Fläche, Wasser und Licht, um zu wachsen.

Und da Pilze so wenig Ressourcen verbrauchen, aber sehr gesund sind, hat die Lebensmittelindustrie sie bereits zum Fleischersatz erkoren – Würstel, Schnitzel und Co aus Kräuterseitlingen oder ähnlichen Pilzen finden sich heute in vielen Supermarktregalen. Und es schmeckt nicht nur Veganern …